Auf gute Nachbarschaft

Eine mir gut bekannte Persönlichkeit hat einmal die eigene Gottesbeziehung wie folgt beschrieben: „Ich sehe mich als evangelischer Christ und nehme mich wie auch mein Leben intensiv und bewusst wahr. Dabei ist Gott für mich eine wichtige Instanz. Einige wenige Male in meinem Leben habe ich diese schon von weitem schemenhaft wahrgenommen und wir haben uns dann kurz, aber freundlich gegrüßt.“
Was mir an dieser Aussage in erster Linie gefällt ist die eigene Ehrlichkeit. Was dieser – übrigens sehr ernsthafte und zugleich nette – Zeitgenosse hier beschreibt ist so eine Art Beziehung mit dem Fernglas. Es klingt so ähnlich wie das „Verhältnis“ zu manch langjährigem Nachbarn in einer anonymen Wohnanlage. Man trifft diesen Menschen ab und zu im Treppenhaus, wechselt ein paar freundliche Worte und ist völlig betroffen, als man aus der Zeitung erfährt, dass eben dieser Mensch tot in der eigenen Wohnung aufgefunden wurde, wo sein Leichnam offenbar schon länger unbemerkt gelegen hatte, weil niemandem dessen Ableben aufgefallen war.
Ist das etwa Beziehung? Ich meine nein! Zu Ihrer Beruhigung: Die Rede ist hier von einem toten Nachbarn und nicht von einem toten Gott, auch wenn manche Zeitgenossen dies so formulieren!

Und Ihre eigene Gottesbeziehung?

Gehörst Du möglicherweise zu denjenigen Menschen, die – wären sie absolut ehrlich – die eigene Kirchenmitgliedschaft nur deshalb aufrechterhalten, weil sie nach dem eigenen Ableben in den Himmel kommen möchten? – So betrachtet ist zu fragen, ob dieser Ort wirklich so attraktiv ist oder ob es da Kleingedrucktes zu beachten gilt.

Aber zuerst einmal zurück zu Deiner Beziehungskiste mit Gott. Hat Dein persönlicher Kontakt zu Ihm möglicherweise Ähnlichkeiten mit dem oben beschriebenen Wohnungsnachbarn? – Und wenn ja, was hätte das für Konsequenzen auf den noch offenen Posten im frommen „Alles Inklusive“ Paket? (Durch regelmäßige eigene finanzielle Beiträge, erhalte ich recht umfassende Dienstleistungen zu Lebzeiten und anschließend ein Bett im Himmel.)
Wie wäre das wohl, wenn der ‚alte Herr’ im Appartement nebenan bewohnen würde und Ihr Euch ab und zu im Treppenhaus begegnen würdest. Er, eine Persönlichkeit mit so anderen Vorstellungen über das Leben, dessen Ziele und Werte – und Du, der Du jung und dynamisch, also einfach gut drauf sein willst: Leben muss für Dich Spaß machen, Moralgerede oder Riten sind nicht Dein Ding, alles will ausprobiert und selbst erfahren werden!

Partytime ....

Würdest Du gerne auf eine Party gehen, zu die Dich dieser nette, jedoch offenbar antiquierte Herr von eingeladen hat? Dass man sich ab und an auf dem Flur begegnet und kurz miteinander redet findest Du absolut in Ordnung – immerhin: man kennt sich ja! – Aber ausgerechnet auf eine Party – noch dazu in seinem Stil und mit seinen Leuten? Das ist doch eine andere Hausnummer! Klar, würden Deine Freunde eine solche Veranstaltung organisieren, so gäbe es fast keinen Hinderungsgrund dabei zu sein und mitzufeiern, aber in diesem speziellen Fall scheint Skepsis äußerst angebracht zu sein!

Es wäre also durchaus nicht verwunderlich, wenn Du diesem freundlichen Angebot des Nachbarn eine ebenso freundliche, aber bestimmte Absage erteilten würdest: … man habe ja noch so viel zu tun, … es täte einem ganz furchtbar leid, aber man würde es einfach nicht schaffen!

Südsee (Alp-) Traum?

Wie aber würde sich die Situation für Dich verändern, wenn dieser Mensch von nebenan ein verkappter Onassis wäre, der völlig inkognito in Deiner Nachbarschaft lebt, aber sein Zuhause – sagen wir in der Südsee – eine Insel mit prächtigem Anwesen sein eigen nennt … Und Du würdest von ihm genau dorthin eingeladen werden (samt allen Reisekosten und so!)? - Klingt doch faszinierend da mal für 2-3 Wochen hinzufahren: tolle Gegend, cooles Wetter, heiße Strände – und das alles kostenlos! – Halt, da gibt es eine Kleinigkeit, die ich fast übersehen hätte: Der Gastgeber in spe hatte nicht von 2-3 Wochen gesprochen und auch keine Rückflugtickets angeboten, vielmehr bestand sein Angebot darin den eigenen Wohnsitz dauerhaft auf seinem dortigen Landsitz aufzuschlagen. – Willkommen in der Wirklichkeit! Diese kleine Einschränkung könnte möglicherweise sofort den absoluten Attraktivitätsverlust nach sich ziehen! … Dieser Mann mit seinen überkommenen Vorstellungen vom Leben, das fühlt sich ja fast wie eine Art von Freiheitsberaubung an! Das wäre nicht zum aushalten und Stress pur! Also dann doch lieber auf diese (Alb-)Trauminsel verzichten und in den eigenen vier Wänden bleiben.

Gut erzogen wie man meist sind, würde man wohl diese Person freundlich anlächeln, ihr sagen, dass man das alles ganz toll fände, man vielleicht später auf das Angebot zurückgreifen werde, aber der jetzige Zeitpunkt absolut unpassend sei. So viele andere Dinge würden derzeit keinen Aufschub tolerieren: Kinder sind aus der Schule abzuholen, gerade jetzt wird volle Leistung im Job gefordert (man kann ja nicht einfach wegbleiben), andere wichtige Termine sind schon längst überfällig.

Klar, das sind alles Dinge die Dir und mir JETZT einfallen, weil sie JETZT wichtiger erscheinen. Diese Beziehungskiste kann warten bis irgendwann einmal Zeit dafür vorhanden ist oder einem nichts Besseres einfällt. Spätestens dann wäre es ein guter zeitpunkt das Südseeangebot noch einmal ernsthaft zu prüfen und zu überdenken. - Dumm ist nur, dass das eigene volle Programm zum eigentlichen Verhinderer wird!
Warum? Weil dieser Ausflug nur dann Sinn macht, wenn Du vorher eine Beziehung zu dem besagten Nachbarn aufgebaut hast und diese auch aktiv pflegst. Und so etwas kostet bekanntlich einiges an Zeit! – Tut man es nicht, so wiederholt sich die Geschichte einem Perpetuum-mobile gleich: Solltest Du tatsächlich irgendwann erneut dieses Angebot bekommen, so wirst Du vermutlich diesen Zeitgenossen wieder freundlich, aber gestresst anlächeln, ihn an alle Deine Verpflichtungen erinnern, Dir vornehmen ihn ganz bestimmt in Deinem Ruhestand wenigsten kurz in der Südsee zu besuchen und ansonsten Dich um Deinen übervollen Terminkalender kümmern.

Wie aber würde sich für Dich die folgende Südsee-Variante anfühlen? Gesetzt den Fall Du hättest in den vergangenen Monaten tatsächlich einen echt tollen Kontakt mit diesem Menschen von nebenan zustande gebracht. Mag sein, dass Du bei weitem noch nicht alles verstehen, was dieser Typ erzählt – aber irgendwie lockt es Dich immer wieder in dessen Nähe: Du hörst ihm immer wieder zu, stellst Fragen und erhälst kompetente Antworten – kurz: Ihr seid heftig im Dialog miteinander! Ihr habt eine persönliche, ja andeutungsweise freundschaftliche Beziehung zueinander entwickelt, pflegt diese, baut sie stetig aus und respektiert Euch gegenseitig. Vielleicht fängst Du irgendwann sogar an einige der zunächst antiquiert erscheinenden Sichten näher zu betrachten, um dabei festzustellen, dass diese gar nicht so überholt sind, wie es erst schien.
Und dann kommt Dein neuer, väterlicher Freund eines Tages mit einem recht ungewöhnlichen Vorschlag; er bietet Dir an, in Kürze dauerhaft auf seine Südsee-Insel umzusiedeln und dort zusammen mit anderen Freunden zu leben! – Kein Schmuddelwetter mehr, keine Kämpfe ums monatliche Einkommen, stattdessen tolle Gegend – und was noch besser ist - viel mehr Zeit diese Freundschaft zu pflegen und weiter auszubauen. Klingt doch keineswegs unattraktiv - oder?

Nun, ich denke, Du merkst worauf ich hinaus will: Mit jemandem, zu dem ich nicht jetzt schon eine positive Beziehung aufgebaut habe, werde ich doch nicht freiwillig eine unbestimmt lange Zeit in engster Nähe verbringen wollen. Das ist Stress ohne Ende und nicht sonderlich attraktiv, selbst wenn die Nebenbedingungen - Südsee und so - durchaus reizvoll klingen mögen. Die Tatsache, dass Du Ihr derzeit nebeneinander wohnt macht dabei die Sache nicht wirklich ansprechender.
Sind wir doch ehrlich: wenn dieser Mensch von nebenan mir ein solches Angebot machen würde, ohne dass ich nach ein paar Tagen wieder verschwinden kann, wenn ich merke dass ich mit seinen Regeln und Vorstellungen nicht klarkomme, dann lass ich es doch lieber gleich bleiben, da solch ein Beziehungsstress auf Dauer ziemlich ungesund ist. – Hätten wir allerdings bereits vorher einen persönlichen Draht zueinander entwickelt, so sähe die Welt anders aus, selbst wenn auch dann nicht alles konfliktfrei verlaufen muss.